Die Republik schreibt über die "33 Bücher": Die Idee der «33 Bücher» besitzt aber auch eine Kraft und Evidenz, die potenziell weit über Belarus hinausreicht. Man kann den Gedanken ja mal wenigstens im Kopf durchspielen: Was wäre, wenn solch solidarisches, subversives und kooperatives Publizieren den Despoten und Zensoren weltweit buchstäblich ihre Grenzen aufzeigte? Wenn es den Unterdrückern und Menschenrechtsfeinden, sagen wir, im Iran, in China, Afghanistan oder Eritrea klarmachte, dass sich Gedanken- und Kunstfreiheit nicht dauerhaft und nie vollständig unterdrücken lassen? Wenn es ihnen – und viel wichtiger: den Bürgerinnen – vor Augen führte, dass die Repression der Gewaltherrscher nur bis zu ihrem Einflussgebiet reicht – und auch dort nie absolut gilt? Naive Hoffnungen? Vielleicht. Doch die Idee der «33 Bücher» ist grösser als das Projekt." (Daniel Graf)
Und hier der gesamte Artikel:
Gegen die Repression
Das Regime in Belarus verfolgt Autorinnen, verbietet Verlage, zensiert und verhindert Bücher. Von der Schweiz aus formiert sich nun kreativer Widerstand.
Im Zürcher Diaphanes-Verlag ist vor kurzem eine Anthologie zum experimentellen belarussischen Theater der 1990er- und Nullerjahre erschienen – und zwar auf Belarussisch.
Suhrkamp, das Flaggschiff der deutschsprachigen Verlagswelt, bereitet derzeit die erneute Herausgabe eines dokumentarischen Textes von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch vor – auf Belarussisch.
Und der auf Osteuropa spezialisierte Berliner Verlag Edition Fototapeta, wo im Frühjahr das Buch «Wörter im Krieg» des ukrainischen Schriftstellers Ostap Slyvynsky herauskam, plant für Januar noch einmal eine Ausgabe – auf Belarussisch.
Haben die Verleger etwa ein neues Geschäftsmodell entdeckt?
Natürlich nicht. Dass deutschsprachige Häuser nun begonnen haben, Bücher in belarussischer Sprache auf den Markt zu bringen, hat handfeste politische Gründe. Und es geht zurück auf eine Idee der belarussischen Übersetzerin Iryna Herasimovich, die seit Mai 2021 im Exil in Zürich lebt (und auch schon für die Republik über Belarus geschrieben hat).
Zusammen mit der Slavistin Sylvia Sasse und dem Schriftsteller Lukas Bärfuss hat Herasimovich die Aktion «33 Bücher für ein anderes Belarus» ins Leben gerufen, die vom Slavischen Seminar der Universität Zürich unterstützt wird. Der Grundgedanke dabei lautet: Wenn Bücher wegen der Repressionen nicht in Belarus verlegt werden können, dann bringen wir sie einfach mithilfe ausländischer Verlage zu den belarussischen Leserinnen: zu jenen in der Diaspora; aber auch – weil das E-Book leichter Grenzen überwindet – zu den Menschen in Belarus.
Das klingt wesentlich einfacher, als es ist. Und doch hat die Umsetzung der Idee bereits begonnen.
Nicht zuletzt liegt das an der tatkräftigen Mithilfe der Exilierten. Zmicier Vishnioŭ zum Beispiel, einer der Herausgeber der Theater-Anthologie. Der Dichter und Künstler war 15 Jahre lang Leiter von Halijafy, einem der führenden unabhängigen Verlage in Belarus – bis Halijafy im April 2022 vom Regime kurzerhand zwangsliquidiert wurde. Vishnioŭ ging nach Berlin ins Exil. Und versucht nun, da es die «33 Bücher»-Aktion gibt, mit seinem Netzwerk und Know-how dafür zu sorgen, dass ein Teil der Bücher, die bei Halijafy hätten erscheinen sollen, auf anderen Wegen ihre Leser finden. Die erwähnte Anthologie etwa, das erste bereits erschienene Buch aus der Aktion, trägt denn auch konsequenterweise nicht nur das Verlagslogo von Diaphanes – sondern auch das von Halijafy.
Die Repressionen gegen Vishnioŭ und seinen Verlag sind beileibe keine Einzelfälle. Vor allem seit dem Jahr 2021 gehe Lukaschenkos Regime besonders «rabiat gegen die freie Kulturszene in Belarus vor», schreibt die Slavistin Nina Weller in einem einschlägigen Text.
Zmicier Vishnioŭ geht im Gespräch mit der Republik noch einen Schritt weiter: «Es geht um die Säuberung der ganzen Zivilgesellschaft», die unabhängige Verlagsbranche sei da nur eines von vielen Zielen der staatlichen Willkür. Die Anthologie, die er nun bei Diaphanes mitherausgegeben hat, sei noch nicht einmal ein im engeren Sinne politisches Buch. Aber in Belarus sei ohnehin längst alles politisch, sagt er und fügt sarkastisch hinzu: «Man kann auch für das Einatmen von Luft angeklagt werden.»
Der unabhängige belarussische Schriftstellerverband SBP wurde 2021 infolge der Massenproteste zwangsaufgelöst; nur der staatsnahe Konkurrenzverband ist übrig geblieben. Das belarussische Zentrum der internationalen Schriftstellervereinigung PEN wurde ebenfalls dichtgemacht und agiert seit 2022 aus dem polnischen Exil heraus. Unzählige Kulturschaffende sitzen im Gefängnis, viele andere sind längst ins Ausland geflüchtet. Vishnioŭs Kollege Ihar Lohvinaŭ betreibt seinen Verlag, einst ein Hotspot für die alternative Literaturszene in Belarus, schon seit Jahren aus dem litauischen Exil. Auch er wirkt nun bei «33 Bücher für ein anderes Belarus» mit.
Und dann, sagt die Übersetzerin Iryna Herasimovich, gebe es noch viele Kulturschaffende, die im Land geblieben seien und im Verborgenen weiter für Veränderungen kämpften. Auch für sie, die häufig vergessen würden, obwohl sie besonderen Risiken ausgesetzt seien, treibe sie die «33 Bücher» voran.
Wie die Co-Initiatorin Sylvia Sasse ausführt, zielten die Repressionen gegen die Verlagsszene immer auf zweierlei. Das Lukaschenko-Regime bekämpfe alles, was nicht in sein Weltbild passe, es gehe aber auch um Sprachpolitik: «Die sogenannte ‹Liste extremistischer Bücher› und die Zwangsliquidierung von Verlagen richten sich auch gegen Bücher in belarussischer Sprache» – weil das Belarussische in Abgrenzung von der russischen Amtssprache zur Sprache der Opposition und inzwischen auch zum Statement gegen den Putinismus geworden sei.
Die Zensur aushebeln
Der Zensur und Repression hält die Aktion von Herasimovich, Sasse und Co. nun eine Widerstandsform entgegen, die klassisch subversive und neue digitale Möglichkeiten verbindet. «Wir stehen ganz sicher in der Tradition des Tamizdat», sagt Herasimovich und verweist damit auf die sogenannten Dort-Verlage während der Sowjetzeit. Unliebsame Bücher wurden schon im Kalten Krieg in Exilverlagen im Ausland veröffentlicht. So konnten sie Menschen in der Diaspora erreichen, aber auch im Untergrund in der UdSSR zirkulieren.
Anders als beim klassischen Tamizdat handelt es sich beim Projekt von Herasimovich, Sasse und Bärfuss allerdings um eine gebündelte Aktion. Und noch wichtiger: In digitaler Zeit bieten sich für das alte Tamizdat-Prinzip ganz neue Möglichkeiten.
Zwar ist das gedruckte Exemplar für Autorinnen, Verleger und Leserschaft noch immer essenziell, weil es Sichtbarkeit bedeutet und Wertigkeit ausstrahlt; weil die Werke auf diese Weise physisch präsent sind in den Bibliotheken, auf Veranstaltungen und, zumindest ausserhalb von Belarus, potenziell auch im Buchhandel; und schliesslich weil es für die belarussische Literaturszene darauf ankommt, möglichst viel von der gewohnten Verlagsinfrastruktur auch unter Exilbedingungen aufrechtzuerhalten. Aber: Für das Aushebeln der willkürstaatlichen Zensur und um die Distanz zwischen der Produktion im Ausland und der Leserschaft in Belarus zu überwinden, sind digitale Buchausgaben das mächtigste Instrument.
Selbst in einem überwachten und zensierten Internet finden sich Möglichkeiten, ein E-Book von Servern im Ausland herunterzuladen oder eine Datei etwa via Telegram weiterzuverbreiten. Entgegen der üblichen Buchmarktlogik wollen die Initiatorinnen der «33 Bücher» nämlich die digitalen Ausgaben dieser Reihe kostenlos halten – als Open Access PDF. Das ist nicht zuletzt für potenzielle Leserinnen in Belarus wichtig, erklärt Herasimovich: «Denn wenn sie mit Karte zahlen, hinterlassen sie Spuren – und das ist gefährlich.»
Dass damit für die Menschen in Belarus, wo Willkür, Verfolgung und Dauerüberwachung herrschen, nicht alle Gefahren gebannt sind, ist den Projektinitiatorinnen natürlich bewusst. «Aber die Menschen im Land», sagt Herasimovich, «kennen die Risiken selbst am besten und sie wissen, welches Risiko sie eingehen wollen»; sie müssten ohnehin jeden Tag vielfach solche Entscheidungen treffen.
Das gilt auch für die Autoren, die noch im Land leben. Als kürzlich die Theater-Anthologie erschien, haben Zmicier Vishnioŭ und Iryna Herasimovich die Beiträgerinnen einzeln gefragt, ob sie ein gedrucktes Belegexemplar zugesandt haben wollen oder nicht – denn auch die Post könnte geöffnet und kontrolliert werden. Manche wollten unbedingt das Exemplar geschickt bekommen, erzählt Vishnioŭ, auch weil sie diese Bücher als sichtbares Hoffnungszeichen und als Statement gegen das Verstummen verstünden. Andere wiederum hätten aus Vorsicht auf eine Zusendung verzichtet.
All das macht bereits deutlich: Das Verlegen im Modus «Tamizdat 2.0» erfordert von den Beteiligten, ganz neu zu denken. Das Projekt stellt die Regeln des internationalen Buchmarkts komplett auf den Kopf – nicht nur, weil es hier von vornherein nicht um kommerzielle Ziele geht. Sondern auch, weil die etablierten Arbeitsprozesse und Vertriebsstrukturen nicht mehr greifen.
Diaphanes zum Beispiel gewährleistet über den eigenen Direktvertrieb zwar «eine globale Bestellbarkeit und Lieferbarkeit», wie Verleger Michael Heitz gegenüber der Republik ausführt. In der Realität sei es aber insbesondere in Belarus «schwierig bis unmöglich», das Buch, zumal als Print, direkt zu vermarkten.
Die Initiative setzt deshalb auf Veranstaltungen in der Diaspora, wie es sie bereits etwa in Kooperation mit dem Literaturhaus Basel gab. Und es kommt für die Verbreitung auf die belarussischen Vermittler an: Zmicier Vishnioŭ zum Beispiel, der vor allem über die sozialen Netzwerke Aufmerksamkeit für das Buch zu schaffen versucht. Dass die Publikation «unter der Hand zirkulieren» könne, so Michael Heitz, sei «der erste wichtige Schritt, dem sukzessive weitere folgen können». Im Grunde, so Heitz, sei das Ganze «eine Art von moderner Flaschenpost».
Dabei ist der Vertrieb nur die letzte von zahlreichen Herausforderungen. Denn fast das gesamte verlegerische Tun muss für die «33 Bücher» neu organisiert werden.
Normalerweise funktioniert der internationale Buchmarkt so: Bücher, die ein Verlag für sein eigenes Programm gewinnen will, werden im Wettbewerb mit anderen Häusern eingekauft. Das heisst: Die Nutzungsrechte werden für eine bestimmte Zeit, ein bestimmtes Territorium und eine bestimmte Sprache erworben. Deutschsprachige Verlage also kaufen fremdsprachige Titel ein, um sie ins Deutsche übersetzen zu lassen – und dann möglichst zahlreich an deutschsprachige Leserinnen zu verkaufen.
Wenn nun aber Bücher hierzulande auf Belarussisch produziert werden, dann bedeutet das auch: Die deutschsprachigen Verlage können einen Grossteil ihrer Kernkompetenzen gar nicht einbringen – weil das Lektorieren, Setzen, Korrigieren von Büchern natürlich an der Sprachkompetenz hängt. Kurz: Die Bücher brauchen belarussische Übersetzerinnen, Lektoren und Herstellerinnen. Und genau diese Kompetenzen bringen die belarussischen Exilverlage ein. So erscheinen die «33 Bücher» immer als Kooperation: das Suhrkamp-Buch zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Lohvinaŭ, der Band der Edition Fototapeta im Zusammenspiel mit Halijafy. «Wir wollen und müssen die Kräfte bündeln», sagt Herasimovich.
Mit anderen Worten: Es geht bei den «33 Büchern» nicht in erster Linie um book deals, sondern um Solidarität. Oder wie Mitinitiatorin Sylvia Sasse es ausdrückt: «Die hiesigen Verleger haben sofort verstanden, was es hiesse, wenn ihr eigener Verlag liquidiert werden würde. Da musste kaum einer gross überredet werden, mitzumachen.» So ähnlich beschreibt auch Andreas Rostek von der Edition Fototapeta seine Motivation: «Was in Belarus geschieht, kann man nicht anders denn als ‹Staatsterrorismus› bezeichnen. Für uns als Verlag, der sich oft mit Osteuropa befasst, liegt es nahe, die belarussischen Verleger und Autorinnen zu unterstützen. Da kam das Projekt ‹33 Bücher› wie gerufen.»
Trotz aller Branchensolidarität wollen die Initiatorinnen in den kommenden Wochen auch ein Crowdfunding starten. Schliesslich will man Autorinnen, Übersetzern, Lektorinnen und Setzern faire Löhne zahlen – und dies, ohne dass die Verlage nennenswerte Einkünfte werden erzielen können.
Die Kraft der Idee
Aber vielleicht muss man die Herausforderungen einen Moment beiseitelassen und sich noch einmal die Idee und das ihr innewohnende Potenzial vor Augen führen.
Man stelle sich nur mal vor, in Belarus mit seinem diktatorischen, Putin-freundlichen Regime kursierte Timothy Snyder auf Belarussisch. Schon der Titel eines seiner jüngsten Bücher wäre eine Pointe: «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand». Oder, anderes Beispiel: Man stelle sich vor, im Land von Lukaschenko, der wie alle Rechtsautoritären die LGBTQ+-Bewegung verfolgt und verfemt, wäre ein Roman wie Kim de l’Horizons «Blutbuch» auf Belarussisch zu lesen.
Beides könnte schon in Bälde kein Gedankenexperiment mehr sein, sondern Realität.
Wie Jonathan Beck, Verleger des renommierten Verlags C. H. Beck, im Gespräch mit der Republik ausführt, will sein Haus die Übersetzung des Snyder-Buchs ins Belarussische finanzieren. Beck wird die beiden belarussischen Exilverlage Lohvinaŭ und die in London ansässige Skaryna Press auch bei der Organisation des Drucks unterstützen, damit diese gemeinsam «On Tyranny» auf Belarussisch herausbringen können. Und Iryna Herasimovich selbst übersetzt gerade Kim de l’Horizon in ihre Muttersprache. Mit de l’Horizons Hausverlag Dumont laufen bereits Verhandlungen über eine belarussische Ausgabe im Rahmen der «33 Bücher».
Natürlich findet das Projekt unter prekären Bedingungen und abseits der Strukturen statt, die den Literaturbetrieb sonst am Laufen halten: Lesungen, Medienpräsenz, ein umtriebiger Buchhandel. Aber die Aktion bedeutet für die beteiligten belarussischen Autorinnen und Literaturbetriebsangehörigen nicht weniger, als dass sie sich nicht mundtot machen und zur Passivität verdammen lassen. Wenn auch nur ein Teil der Bücher, die in einem freien Belarus hätten verlegt werden können, nun tatsächlich erscheinen, heisst das: Lukaschenko und seine Schergen haben nicht verhindern können, dass diese Werke in die Welt kommen; dass sie da sind, archiviert, in Bibliotheken aufgenommen und überliefert werden. Und dass sie, wenigstens in kleiner Auflage, gelesen und verbreitet werden.
Die Idee der «33 Bücher» besitzt aber auch eine Kraft und Evidenz, die potenziell weit über Belarus hinausreicht.
Man kann den Gedanken ja mal wenigstens im Kopf durchspielen: Was wäre, wenn solch solidarisches, subversives und kooperatives Publizieren den Despoten und Zensoren weltweit buchstäblich ihre Grenzen aufzeigte? Wenn es den Unterdrückern und Menschenrechtsfeinden, sagen wir, im Iran, in China, Afghanistan oder Eritrea klarmachte, dass sich Gedanken- und Kunstfreiheit nicht dauerhaft und nie vollständig unterdrücken lassen? Wenn es ihnen – und viel wichtiger: den Bürgerinnen – vor Augen führte, dass die Repression der Gewaltherrscher nur bis zu ihrem Einflussgebiet reicht – und auch dort nie absolut gilt?
Naive Hoffnungen? Vielleicht. Doch die Idee der «33 Bücher» ist grösser als das Projekt.