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Verwandtschaft

Autor:in

Zbych Slupoŭsky

Über das Buch

Die Figuren des Romans gehören zu mehreren Generationen, die im Laufe der Geschichte immer wieder Umwälzungen und Katastrophen durchmachen: Revolution, Kollektivierung, Krieg, Kollaboration, Holocaust, Auszug aus den Dörfern in die Städte, Wendezeit etc. Nicht nur das eigene Leben wird dadurch bestimmt, auf welcher Seite man sich beim nächsten Bruch in der Geschichte befindet, sondern auch das der nachfolgenden Generationen. Immer wieder verlaufen die Fronten mitten durch die Familien und Gemeinschaften, wie es in Belarus tatsächlich der Fall war und ist.

Der Autor deckt spielend etliche Stereotypen auf, die in der belarusischen Gesellschaft bis heute vorherrschen, und zeigt auf humorvolle und unheimliche Weise, dass es keine geraden Linien in der belarusischen Geschichte gab und man sich zwangsläufig ins Wirrwarr der dunklen Geschichten begeben muss, wenn man sich der Wahrheit über diesen Raum nähern will.

Über den/die Autor:in

Zbignew Leo-Piotr Slupowski aka Zbych Slupoŭsky (Künstlername) wurde am 29. Februar 1971 in Witrumiczy, Region Baranawiczy, in einer jüdisch-polnischen Familie geboren. Sein Vater begann seine Karriere als Melamed1, später wurde er oberster regionaler Steuerinspektor. Seine Mutter stammte aus der Familie von Funktionären der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die nach der Krise von 1968 nach Belarus ausreisen mussten. Sbych war immer ein ausgezeichneter Schüler. Nach dem Schulabschluss in Witrumiczy begann er sein Studium an der Traktorenbaufakultät der Staatlichen Universität Baranowitschy. Nach einiger Zeit wechselte er an die Landwirtschaftliche Akademie in Gorki, um Agrarwohlstand zu studieren. Nach seinem Studium promovierte er 1997 an der Nationalen Akademie der Wissenschaften von Belarus über die Befruchtung von Tieren unter den Bedingungen der radioaktiven Verstrahlung. Gleichzeitig war er als Autor und Übersetzer tätig. 2020 veröffentlichte der Verlag “Halijafy” den ersten Roman von Sbych Slupoŭsky “Essays zur zeitgenössischen Landeskunde”. Derzeit ist Slupoŭsky am Institut für Agrarbiophysik der Nationalen Akademie der Wissenschaften von Belarus tätig. Er hat mehr als 100 wissenschaftliche Arbeiten und Zertifikate von erfolgreichen Befruchtungsbehandlungen an Tieren vorzuweisen. Er ist verheiratet und hat zwei Katzen.

Angesichts der politischen Situation in Belarus ist die Biografie des Autors aus Sicherheitsgründen fiktiv, seine Person bleibt unbekannt.

Über den Verlag

Halijafy ist ein unabhängiger Verlag, der 2007 in Belarus gegründet wurde. Am 16. April 2022 musste er auf Beschluss des belarusischen Informationsministeriums seine Verlagstätigkeit einstellen.

Im Halijafy-Verlag konnten 15 Jahre lang Bücher zeitgenössischer belarusischer Autor:innen erscheinen. Zu den Autor:innen des Verlags gehören unter anderem auch Schriftsteller:innen wie Volha Hapeyeva, Alhierd Baharevich, Julia Cimafeeva oder Valiantsin Akudovich (Akudowitsch), die heute durch Übersetzungen ihrer Bücher den Belarus-Diskurs im deutschsprachigen Raum prägen.
Die Veröffentlichungen von Halijafy wurden mehrfach mit nichtstaatlichen Literaturpreisen in Belarus ausgezeichnet, zwei Bücher wurden als “Buch des Jahres” prämiert.

Produktionsstand

Wir suchen für das Buch noch einen Verlag. Der folgende Auszug in der Übersetzung von Tina Wünschmann gibt einen Einblick:

Anfang

Ich hasse es, wenn auf mich geschossen wird. Das konnte ich noch denken, als ich mich über die Brüstung der Straßenunterführung warf. Dann dachte ich eine Weile nichts mehr. In der Toilette im zweiten Stock des Arena-Centers, vor einem verschmierten Spiegel, schaute ich auf den Fetzen Haut, der unter meinem linken Ohr baumelte, und stellte melancholisch fest: die verdammte Geschichte wiederholt sich nicht nur – sie besteht einfach komplett aus Schablonen. Immer wieder fast exakt dieselben Würfel und Kombinationen. Außerdem dachte ich darüber nach, dass ich ein kleinmütiger, nichtsnutziger Feigling bin. Und äußerst zufrieden damit. Denn ich bin eben nicht mein Großvater Anisim, weder in Statur noch Mut. Auch meine Liebe zur Verwandtschaft ist eine komplett andere, vor allem, wenn mein fast direkter Neffe auf mich schießt, auch wenn’s mit Gummigeschossen ist. Denn Großvater Aniska lief nicht vor dem Gewehr davon, er lief auf es zu, und seitdem hat Großvater Michal eine schiefe Nase und vorn nur noch einen Zahn im Oberkiefer. Aber Großvater Aniska hat ihn nicht umgebracht, er hat nur das Gewehr mitgenommen. Andererseits war Großvater Michal auch verwegen genug gewesen, Aniska Auge in Auge im Wald gegenüberzutreten.

Zugegeben, lange dachte ich nicht über meine Großväter nach, denn aus Kratzern am Kopf fließt immer erstaunlich viel Blut und lässt einen aussehen wie ein Opfer der Schlacht auf dem Peipussee, die es eigentlich nie gegeben hat, aber darum geht es hier nicht. Alle jagen die Verletzten, vom Verkehrspolizisten bis zur Staatsanwaltschaft, und wenn sie einen kriegen, hauen sie noch mal drauf und hängen ihm dann eine Straftat an, damit er bloß nicht auf die Idee kommt, wegen der Schläge Anzeige zu erstatten. Deshalb band ich mir Socken um den Kopf, schaute in den Spiegel, fluchte und ging dann zielstrebig hinaus auf den Gang, wo drei Türen weiter der Laden High Adventure mit zwei schockerstarrten Verkäuferinnen lag. Die beiden waren dermaßen konsterniert, dass sie mir alles verkauften, wonach ich fragte, und auch keinen Mucks von sich gaben, als ich die ganzen neuen Sachen anzog, mit Gummiband die blutigen Socken fixierte und dann einen Schlauchschal darüber schob, sodass ich aussah wie ein irrer Tennisspieler. Später saß ich im Pizza Tempo auf derselben Etage, fraß zielstrebig eine Pizza Calzone und trank dazu Mineralwasser aus der Fabrik des Oligarchen Topusidis. Ich saß an einem riesigen, raumhohen Fenster und sah, dass es in den kleinen Straßen der Elitesiedlung hinter dem Arena-Center vor schwarzen Gestalten wimmelte, die emsig alle einfingen, die durch das Einkaufszentrum flüchten wollten, um sich dahinter zwischen den Gebäuden zu verstecken, von denen jedes einzelne eine Million Dollar kostete. Die Jagd verlief ziemlich lebhaft und dramatisch, ich sah zu und fraß Pizza, weshalb ich wohl auch überhaupt nicht dazu kam, zu erschrecken, als die Schwarzen plötzlich auch von der anderen Seite auftauchten, nämlich an meinem Tisch. Diese Gestalten reagieren üblicherweise nur auf intensiven Angstgeruch, daher interessierte ich sie nicht sonderlich. Sie nahmen sich einen Jungen mit Brille und schulterlangem Haar vor. Übrigens, als sie ihn schlugen, fiel auf meinem Tisch die Colaflasche um, aber ich verzichtete darauf, mich zu beschweren und beobachtete nur schweigend, wie sie den Jungen hinausbeförderten. Zwei schleppten ihn, der Dritte lief hinterher und trug die zerbrochene Brille. Erst, als sie draußen waren, durchfuhr es mich. Mit denen hätte ja auch mein fast direkter Neffe Michal hereinkommen können – derselbe, der auf mich geschossen hatte.